Antrag: Mit mehr Entschiedenheit: Häusliche Gewalt bekämpfen
Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90 Die Grünen
Entschließung
Jede vierte Frau in Deutschland erlebt in ihrem Leben mindestens einmal körperliche und/oder sexualisierte Gewalt. Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu ermorden, an jedem dritten Tag gelingt es ihm. Gewalt gegen Frauen hat viele Facetten. Nicht jede Gewaltform ist für Außenstehende auf Anhieb erkennbar. Die Zahlen von Partnerschaftsgewalttaten und Femiziden steigen seit Jahren an. So hat die Polizei in Niedersachsen im Jahr 2023 insgesamt 29.875 Fälle häuslicher Gewalt und damit eine Zunahme um 10,7 Prozent im Vergleich zu 2022 (2022: 26.997 Fälle) registriert. Die Dunkelziffer ist zweifellos noch weitaus höher. Dabei umfasst häusliche Gewalt nicht nur partnerschaftliche und ex-partnerschaftliche, sondern auch familiäre Gewalt.
Gegen diese Gewalt können Betroffene zwar gerichtlich vorgehen. Allerdings ist es oftmals schwierig, die erfahrene Gewalt zu beweisen, denn körperliche Verletzungen sind möglicherweise in der Zwischenzeit verheilt und die erlebte psychische Gewalt vor Gericht nur schwer belegbar.
Am 1. Februar 2018 trat die Istanbul-Konvention in Deutschland in Kraft. Mit der Ratifizierung am 12.10.2017 und Erteilung des innerstaatlichen Anwendungsbefehls sind auch Bundesländer wie Niedersachsen an die Istanbul-Konvention gebunden. Hiernach hat sich das Land verpflichtet, gegen jede Form von Gewalt gegen Frauen vorzugehen, auch präventiv.
Wir begrüßen, dass sich nach Angaben der Opferhilfe in Niedersachsen im vergangenen Jahr so viele Menschen wie noch nie seit Gründung der Opferhilfe in 2001 an die Stiftung gewandt haben. Niedersachsen verfügt bereits jetzt über ein flächendeckendes Netz an Beratungsstellen, Krisen- und Schutzeinrichtungen für Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt werden. Die meisten Betroffenen wenden sich aufgrund von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und gegen die körperliche Unversehrtheit an die Opferhilfe. Hierbei sind 80 Prozent der Betroffenen Frauen.
Gleichzeitig führt uns die steigende Zahl der öffentlich gewordenen Fälle von häuslicher Gewalt vor Augen, dass sich zwar mehr Betroffene trauen, Unterstützung zu suchen. Das Problem von häuslicher Gewalt ist allerdings bei weitem nicht gelöst. Es bedarf daher noch mehr Anstrengungen, um Betroffene aus gefährlichen Beziehungen zu helfen.
Der Verein „Gewaltfrei in die Zukunft“ hat in diesem Zusammenhang eine geschützte App entwickelt, um Frauen über Hintergründe und Dynamiken von geschlechtsspezifischer Gewalt zu informieren, ohne sich einer dritten Person anvertrauen zu müssen. Außerdem bietet die App ein Informationsportal zu gängigen juristischen Fragestellungen. Eine besonders zentrale Funktion ist das integrierte Gewalttagebuch, welches den Betroffenen ermöglicht, ein Protokoll über Gewaltvorfälle hochzuladen, wodurch das Beweisen der Gewalttaten vor Gericht vereinfacht wird. Die ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) hat auf ihrer Frühjahrskonferenz auf Initiative von Niedersachsen und Berlin einstimmig beschlossen, dass die geschützte App von Gewaltfrei in die Zukunft e.V. bisher die einzige technische Applikation ist, die den Sicherheitsanforderungen dieser sensiblen Daten gerecht wird, und die Einführung der App ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung häuslicher Gewalt ist. Das Ziel Niedersachsens ist, dass bei erfolgreicher Pilotierung der App perspektivisch die bundesweite Einführung der App umgesetzt wird, um eine innovative, digitale Präventionsarbeit im Bereich von häuslicher Gewalt und Femiziden voranzutreiben.
In vielen Fällen häuslicher Gewalt haben sich Betroffene bereits an die Gerichte gewandt, worauf folgend eine sog. Gewaltschutzanordnung ausgesprochen wurde. Täter lassen sich von einer solchen Anordnung aber häufig nicht abschrecken und nehmen stattdessen zahlreiche weitere Strafanzeigen aufgrund eines Verstoßes gegen das Kontaktverbot in Kauf. All dies geschieht, obwohl bereits gerichtlich festgestellt wurde, dass von den jeweiligen Tätern ein erhöhtes Risiko für die Begehung weiterer Gewalttaten ausgeht.
Aus diesem Grund setzt Spanien seit 2009 bei der Überwachung von Kontakt- und Annäherungsverboten auf den Einsatz elektronischer Fußfesseln. Dabei konnte Spanien bereits einige Erfolge verzeichnen: In den ersten zehn Jahren wurde im Rahmen des Programms keine Frau getötet, entweder weil das Kontaktverbot beachtet wurde oder die Polizei rechtzeitig eingreifen konnte. Auch Frankreich setzt seit September 2020 auf die elektronische Aufenthaltsüberwachung (EAÜ) im Bereich der häuslichen Gewalt. Analog zum spanischen Modell setzen die französischen Behörden dabei auf eine dynamische Überwachung, bei der sowohl Täter als auch Opfer überwacht werden. Zudem läuft im Kanton Zürich (Schweiz) seit August 2023 ein Pilotversuch mit dem spanischen Modell der Fußfessel. In Bundesländern wie Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist der Einsatz einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung im Kontext häuslicher Gewalt möglich. In Niedersachsen besteht diese Möglichkeit nur im Kontext der Führungsaufsicht oder terroristischer bzw. schwerer organisierter (Gewalt-)Straftaten, vgl. § 17c Niedersächsisches Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (NPOG).
Der Landtag begrüßt
- den kontinuierlichen Ausbau des Unterstützungs- und Hilfesystems für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen in Niedersachsen
- die Erarbeitung des Landesaktionsplans 4 zur Bekämpfung häuslicher Gewalt
- dass die Landesregierung die Pilotierung der Gewaltschutz-App in der Polizeidirektion Hannover initiiert und inzwischen den Einsatz der App auf zwei weitere Polizeidirektionen in Niedersachsen ausgeweitet hat und sich im Rahmen der IMK bei erfolgreicher Pilotierung für eine bundesweite Einführung stark macht.
Der Landtag bittet die Landesregierung,
- im Falle einer positiven Bewertung der Implementierung der App, diese im nächsten Schritt landesweit auszurollen. In diesem Zusammenhang ist die Gründung eines Projektbüros in Niedersachsen personell und finanziell zu unterstützen.
- das Projekt durch regelmäßige Evaluierung der App zu begleiten. Die damit gewonnenen Erkenntnisse sollen in die technische Verbesserung der App und ihre Verteilung einfließen.
- sich auf Bundesebene für eine bundesweit einheitliche Regelung des Einsatzes von elektronischer Aufenthaltsüberwachung im Zusammenhang von häuslicher Gewalt im Gewaltschutzgesetz einzusetzen. Wenn es zu keiner bundeseinheitlichen Regelung kommen sollte, wird die Landesregierung gebeten, dem Landtag eine gesetzliche Regelung zum Einsatz der sogenannten elektronischen Fußfessel im Bereich der häuslichen Gewalt im NPOG vorzulegen.
Begründung
Die Verbreitung der geschützten App ist nicht nur ein wichtiger Schritt hin zur weiteren Umsetzung der Istanbul-Konvention, sondern sorgt auch ganz konkret für mehr Sicherheit bei von häuslicher Gewalt Betroffenen. Auch ermöglicht die App, dass sich Betroffene Hilfe holen können, ohne Konsequenzen des gewalttätigen Partners oder der gewalttätigen Partnerin befürchten zu müssen. Denn die Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung ist deutlich geringer, als wenn sich Betroffene telefonisch beraten lassen oder eine Beratungsstelle vor Ort aufsuchen. Daneben stellt die elektronische Aufenthaltsüberwachung ein effektives Mittel zur Durchsetzung von Kontakt- und Annäherungsverboten dar.
Zu 1.: Es braucht ein Projektbüro in Niedersachsen, damit sichere Kommunikationswege sichergestellt werden können. Auch sind länderspezifische Projektbüros notwendig, um sich an lokal gegebene Beratungsstrukturen anpassen zu können.
Im Fall der erfolgreichen Pilotierung ist es wichtig, die App in ganz Niedersachsen zu verbreiten, um einen Schutz für alle Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, zu gewährleisten. Gerade in ländlichen Regionen, wo Hilfsangebote im Allgemeinen weniger verbreitet sind als im städtischen Raum, bietet die App ihre Vorzüge.
Zu 2.: Eine beständige Evaluation der App muss stattfinden, um diese kontinuierlich verbessern zu können - sei es die technische Abwicklung der App, als auch die Auswahl der Informationen, welche die App bereithält. All dies muss in die Verbesserung der App einfließen. Auch die Zusammenarbeit mit den Behörden vor Ort soll durch die gewonnenen Erkenntnisse verbessert werden.
Zu 3.: Vor dem Hintergrund, dass Bundesjustizminister Buschmann sich nach Presseberichten inzwischen aufgeschlossen gegenüber der Schaffung einer bundeseinheitlichen EAÜ-Anordnung im Gewaltschutzgesetz zeigt, ist eine bundeseinheitliche Einführung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung aufgrund einer Anordnung aus dem Gewaltschutzgesetz anzustreben, um bundesweit einen rechtlichen Flickenteppich zu vermeiden. Falls es dazu nicht kommt, sollte die Erweiterung des Einsatzes durch rechtliche Anpassungen im niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetz ermöglicht werden. Hierdurch würde die Niedersächsische Polizei die nötige Rechtsgrundlage erhalten, um im Einzelfall zur Gefahrenabwehr eine derartige Maßnahme nach gerichtlicher Anordnung umsetzen zu können.